Der Komponist Paul Brody fragt "Are you in love?"

Der Komponist und Klangkünster Paul Brody hat eine tiefe Faszination für die Musik der menschlichen Sprache. Das Ergebnis seiner jahrelangen Beschäftigung mit dem, was er die Stimm-Melodie nennt, ist nun in einer einzigartigen neuen Oper mit dem Namen "Are you in Love?" (Französisch: Êtes-vous amoureux?) zu hören. Aufgeführt werden sollte das Werk ursprünglich in der Opernsaison 2020/21 in der Opéra national de Lorraine in Nancy im Osten Frankreichs. Aufgrund der globalen Pandemie waren Paul und sein Kreativ-Team aber gezwungen, die Oper stattdessen online in Form von 12 Kurzfilmen zu veröffentlichen. In jedem dieser Filme geht es um ein Gespräch über Liebe und Beziehungen zwischen Einwohnern von Nancy. Die Gespräche wurden von dem Anthropologen Alexander Levinger gesammelt und von Paul mit Hilfe der Radioproduzentin Chloé Kobuta transkribiert. Nach der Aufnahme der Oper im Studio, filmte der Regisseur Kevin Barz die Szenen. Das Ergebnis ist ein wirklich außergewöhnliches Werk, mit einer anspruchsvollen Online-Präsentation, die dem Zuschauer ermöglicht, virtuell durch die Straßen von Nancy zu spazieren und die Gespräche nacheinander zu erleben.

Paul hat bei der Komposition der Oper erstmalig mit Dorico gearbeitet. Daniel Spreadbury, der Produktmanager für Dorico, war während dieser Zeit häufig mit Paul in Kontakt und hat ihn beim Lernen der neuen Tools unterstützt. Jetzt, wo das Projekt abgeschlossen und auf der Website der Opéra national de Lorraine Premiere feierte, hat Daniel Paul kontaktiert, um mehr über seinen Kompositionsprozess zu erfahren. Die beiden sprachen auch darüber, wie die Oper sich Im Licht der Pandemie verändert hat und was bei Paul als Nächstes ansteht.

DS: "Are you in love?" Ist ein bemerkenswertes und ungewöhnliches Projekt. Wie bist du auf das Konzept gekommen, Gespräche von Menschen in Nancy für die Basis einer Oper zu verwenden?

PB: Viele meiner Soundinstallation erforschen die Parallelwelten zwischen dem gesprochenen Wort und der Sprachmelodie. Ich hatte das Glück, meine Werke bereits an verschiedenen Orten ausstellen zu dürfen, wie dem Museumsquartier in Wien, dem jüdischen Museum in Berlin und dem kanadischen Language Museum. Da ist so viel künstlerische Inspiration in der menschlichen Stimme, die noch entdeckt werden will.

Der neue künstlerische Leiter der Opéra national de Lorraine war auf der Suche nachKomponisten, die ein wenig anders komponieren. Dabei ging es auch darum, seinOpernhaus für ein breiteres Publikum interessant zu machen. Also habe ichvorgeschlagen, dass wir Geschichten von den Menschen, die in Nancy leben, auf dieBühne zu bringen – sowohl die Geschichten als auch die Sprachmelodien in diesenGeschichten. Ich habe dem Leiter gesagt: „Lass uns die Stadt ihre eigene Operschreiben!“

DS: Du bist fasziniert von der Grenze zwischen Musik und gesprochenem Wort, dies ist ein Hauptthema deiner kreativen Arbeit. Wie gehst du bei der Transkription von Sprache in Melodie und Rhythmus vor?

PB: Es ist genauso viel melodische Inspiration in einem Alltagsgespräch wie in einer Opern-Arie! Aber wir filtern vieles davon heraus, um uns auf die Bedeutung der Wörter zu konzentrieren. Wir sind menschliche Tiere, die das goldene Kalb der Logik anbeten! Das Gehirn verwendet den Großteil seiner Energie als Filter. Damit wir uns auf die konkrete Bedeutung der Wörter konzentrieren können, wird ein großer Teil des melodischen Contents herausgefiltert. Bei meiner Arbeit geht es darum, mit dem gesprochenen Worten so zu komponieren, dass das Ohr die Musikalität unserer Stimmen wieder wahrnehmen kann. Das ist etwas sehr Tiefgreifendes. Ich könnte ewig darüber sprechen, ich nenne es "klangliche Identität".

Die Stimme enthält sowohl technische Informationen wie Alter, Orte, an denen mangelebt hat, die sprachlichen Eigenheiten der Eltern sowie persönliche emotionaleInformationen. Die Stimmmelodie trägt ihre eigene Geschichte, die sowohleigenständig als auch von der Sprache der Umgebung abhängig ist. Das fasziniert mich.Ich habe beispielsweise ein Interview mit einer Frau aus Neu-Delhi geführt, dieTextilkunst in Berlin macht. Als wir über traditionelle indische Färbung und Farbengesprochen haben, sprach sie in C Pentatonik. Wenn sie aber über deutsches Designsprach, wurde ihre Stimme chromatisch. Für mich als Komponist, der sich fürSprachmelodie interessiert, war das wie einen Schatz zu finden!

DS: Du hast mit der Radioproduzentin Chloé Kobuta und dem Anthropologen Alexander Levinger zusammengearbeitet, der die Interviews geführt und aufgenommen hat. Ich weiß, dass Chloé sehr wichtig für dich war, um die lokalen Redewendungen und den Slang zu verstehen. Wenn ich das richtig verstanden habe, sprichst du selbst kein Französisch – wie hat das die Art und Weise beeinflusst, wie ihr an das Material herangegangen sind?

PB: Ich habe extra einige Französisch-Stunden für dieses Projekt genommen, aber meine geringen Sprachkenntnisse haben mich dazu gezwungen, ganz bei der Sprachmelodie zu bleiben. Das war für mich die einzige ehrlicher Möglichkeit, um mit einer Sprache zu arbeiten, die nicht meine Muttersprache ist. Chloé hat mir geholfen, das Französische zu verstehen, indem sie die Sprachmelodie in Zeitlupe für mich imitiert hat. Also habe ich mit ihrer Stimme und den Original-Interviews gearbeitet. Wir haben eine spezielle Notation entwickelt, die es unseren Sängerinnen und Sängern ermöglicht hat, in „Straßen“-Französisch zu singen, während der Text in „geschriebenem“ Französisch dargestellt wurde.

Jede der 12 Interview-Komposition hat damit begonnen, dass wir die Sprachmelodiedes Interviews Note für Note transkribiert haben. Das war eine sehr langwierige Arbeit!Jede Sprachmelodie definierte eine spezielle Tonalität, die wir als Basis für dieKomposition verwendet haben. Ich habe eine Art Schoenberger-Ansatz für die Arbeitmit den Intervallen in den Stimmen gewählt. Ich könnte noch stundenlang davonerzählen, aber das soll reichen.

DS: Ich nehme an, dein Werk war ursprünglich für die Aufführung in einem voll besetzten Opernhaus gedacht. Wusstest du bereits vor der Fertigstellung des Projekts, dass die Premiere online stattfinden würde und hatte dies Auswirkungen auf das Stück?

PB: Wir hatten wirklich Glück im Unglück! Das Projekt fühlt sich gar nicht wie ein Plan B an. Da es zu einem Recording-Projekt geworden ist, konnten die Sängerinnen und Sänger ganz in die Wörter eintauchen und nah am Mikrofon einsingen/sprechen. Auf diese Weise sind viel mehr Details der Stimme zu hören, als bei einer Bühnenaufführung. Außerdem ist das Projekt jetzt einem viel größeren Publikumzugänglich als im Opernhaus mit 1.000 Plätzen.

Und weil das Projekt zu einem Filmprojekt geworden ist, konnte unser junger Nachwuchsregisseur Kevin Barz die Oper brillant in das Filmformat übertragen. So ähnlich wie "Night on Earth". Jede Geschichte hat ihren eigenen Platz in der Stadt gefunden. Auf der Website des Opernhauses klickt man einfach auf Punkte in der Karteund die Szene öffnet sich.

DS: Gab es einige Funktionen von Dorico, die für dich während der Komposition der Oper besonders wichtig waren?

PB: Hans Joern Brandenburg, der für seine Arbeit mit Robert Wilson und Tom Waits bekannt ist, hat mir Dorico gezeigt. Ich hatte gehört, dass Dorico so etwas wie das Ableton Live der Notationssoftware sein sollte. Das fand ich spannend. Dorico kann einen richtig in einen Kompositionsflow bringen, bis zu dem Punkt, an dem man vergisst, dass man mit einem Computer und Musiksoftware arbeitet. Und letztendlich geht es nur um den Flow.

Ich möchte mich bei dir für deine Hilfe bedanken und dass du mich gerettet hast, sobald ich Probleme beim Lernen von Dorico hatte!

DS: Gern geschehen. Das gehört zum Service! Woran wirst du als nächstes arbeiten?

PB: Während wir die Oper gefilmt haben, habe ich die Abende damit verbracht, das nächste große Projekt zu komponieren. Es ist die "Democratic Symphony", ein dokumentarisches Theaterstück von Kevin Barz. Er hat Liveaufnahmen von aktuellenDebatten im Deutschen Bundestag genommen und diese zu einem einstündigen Werkverarbeitet. So kam ich von französischen Liebesgeschichten zur deutschen Politik. Diese Symphonie ist ebenfalls eine Sprachmelodie-Erzählung und klingt gewaltig und explosiv, mit Klangbögen und zackigen Rhythmen, die sich gegenseitig überlagern. Die menschliche Musik der Debatte!

DS: Das klingt genauso faszinierend wie "Are you in love?" Ich freue mich darauf, mehr davon zu erfahren. Aber nun erstmal danke, dass du dir die Zeit genommen hast mit mirzu sprechen.

Wenn du dir "Are you in love?" noch nicht gesehen hast, kannst du dies auf der Website der Opéra national de Lorraine nachholen. Mehr über Paul erfährst du auf seinerr Webseite.